Wer schwer krank wird, schont sich. Nicht so Tamara Adam.
Mit neun erkrankte sie an Knochenkrebs, ihr linker Unterschenkel musste amputiert werden. Doch schon ein halbes Jahr später, die Chemotherapie war noch nicht abgeschlossen, das Haar noch nicht wieder nachgewachsen, nahm sie an einem Wettkampf teil. Jetzt ist sie 15 und hat auf internationaler Ebene schon zwei Bronzemedaillen gewonnen.
Tamara Adam lässt sich nicht unterkriegen, behält ihren Humor, und ihre Familie bestärkt sie in dieser Haltung. „Nächstes Jahr fährst du zu den Paralympics nach Tokio“, sagt ihr Vater Wilfried Adam. „Ich werd‘s versuchen, aber ich werd‘s nicht schaffen“, entgegnet Tamara vorsichtig. Darauf ihr Vater: „Du hast bisher alles geschafft.“
Tamara ging noch nicht zur Schule, als sie bei ihrem ersten sportlichen Wettkampf antrat: auf dem Trampolin. Damals wohnte die Familie in Ganderkesee. Wenig später, die Adams waren nach Seefeld gezogen, entdeckte Tamara den Fußball für sich. Sie kickte bei der Sportgemeinschaft Schwei/Seefeld/Rönnelmoor.
Schmerzen beim Fußball
Und natürlich in der Freizeit. Als sie acht war, spielte sie mit ihren beiden Brüdern und stand dabei im Tor. Die Bälle wehrte sie mit dem linken Fuß ab. Bald war der geschwollen und schmerzte. Die Mutter Margret Adam kühlte ihn, die Schwellung ging zurück, kam aber am Abend wieder.
Daraufhin fuhren die Eltern mit ihrer Tochter in die Nordenhamer Wesermarsch-Klinik. Ein Arzt ließ Röntgen-Aufnahmen anfertigen, aber weil seine Sprachkenntnisse nicht reichten, um den Befund zu erläutern, schickte er die Familie nach Hause. Am nächsten Morgen rief der Chefarzt an und holte die Adams in die Klinik zurück. Das war im Frühsommer 2012.
Tamara hatte Knochenkrebs im linken Unterschenkel. Sie begann in der Kinderklinik Kreyenbrück eine Chemotherapie. Doch weil der Krebs in den Fuß gestreut hatte, empfahlen die Ärzte der Universitätsklinik Münster, die sich die Sache angesehen hatten, eine Amputation des Unterschenkels. Ausgeführt wurde sie am 7. Januar 2013 in Kreyenbrück. „Ich weiß noch die Uhrzeit, zu der du in den Operationssaal gefahren worden bist“, sagt Wilfried Adam zu seiner Tochter. Die sagt: „Ich bin damit klargekommen. Für meine Eltern war es schlimmer als für mich.“
Im Februar bekam Tamara ihre erste Prothese. „Ich bin gut damit zurechtgekommen“, sagt sie. Im Juni nahm sie an einem Behindertensportfest des SV Bayer 04 Leverkusen teil.
Der Verein, den viele wegen seiner Fußballmannschaft kennen, hat einen herausragenden Ruf im Behindertensport. Gerade in diesem Bereich engagieren sich die Leverkusener ganz besonders. Prominentestes Mitglied der Abteilung ist Heinrich Popow. Der jetzt 36-Jährige, der in Kasachstan geboren wurde, gilt in Deutschland als „Stimme der Paralympier“. Ob in den klassischen Medien oder etwa auf Facebook: Überall erhebt Heinrich Popow seine Stimme zugunsten gehandicapter Sportler. Er selbst hatte, genau wie später Tamara, als Neunjähriger seinen linken Unterschenkel durch eine Amputation verloren.
Heinrich Popow war es, der das Talent von Tamara Adam erkannte und beschloss, es zu fördern. Tamara wurde in den SV Bayer Leverkusen aufgenommen, aber weil sie nun einmal in Rodenkirchen wohnt, brauchte sie eine Trainingsmöglichkeit in der Wesermarsch. Sie fand sie bei den Leichtathleten des SV Brake, bei denen sie einmal in der Woche Langlauf („Das liegt mir nicht so“), Sprint, Weitsprung und Speerwurf trainiert.
Prothese getestet
Dabei erwies sich die Prothese, die Tamara täglich trägt, als unzureichend. Heinrich Popow hatte das schon längst erkannt und entwickelte für die Firma Ottobock – das ist ein großer Hersteller von Prothesen – eine Sportprothese für Kinder. Bisher gab es so etwas nur für Erwachsene – etwa für den beinamputierten Sprinter Oskar Pistorius aus Südafrika. „Eltern schonen ihre erkrankten Kinder zu sehr, und deshalb treiben die keinen Sport“, sagt Wilfried Adam. „Das finde ich falsch.“
Als Heinrich Popow Tamara bat, die von ihm entwickelte Kinderprothese zu testen, riet ihr Wilfried Adam deshalb zu. Die Testphase war nicht einfach, eine Prothese brach sogar. Entscheidend ist, dass die Feder nicht zu weich und nicht zu hart ist, sagt Tamara. Doch bald machte die Entwicklung Fortschritte, und jetzt tritt auch Tamara mit einer solchen Hilfe beim Training und bei Wettkämpfen an.
Eine Sportprothese, erläutert Tamara, arbeitet mechanisch. Eine Alltagsprothese ist dagegen elektronisch, damit sie die Gehbewegungen unterstützen kann, was sich besonders beim Treppensteigen bewährt. Auch beim Radfahren und beim Inlineskaten ist die Alltagsprothese besser, beim Joggen muss es dagegen die Sportprothese sein.
Trainingslager in Rom
Dank ihrer guten Zeiten qualifizierte sie sich für die deutsche Nationalmannschaft der gehandicapten Leichtathleten und trat im vergangenen Jahr bei den Meisterschaften der International Wheelchair and Amputee Sports Federation (IWAS, Internationaler Rollstuhl- und Amputierten-Sportverband) in Athlone an, das genau in der geografischen Mitte von Irland liegt. Sie gewann über 200 Meter eine Bronzemedaille. Zuvor hatte sie an einem Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft in Rom teilgenommen.
In diesen Jahr fand das Trainingslager, weniger spektakulär, im ostfriesischen Ihlow statt. Doch bei den anschließenden internationalen Wettkämpfen in Nottwil im Schweizer Kanton Luzern erreichte sie mehrere persönliche Bestzeiten und eine weitere Bronzemedaille – diesmal im Weitsprung. Sie war 3,38 Meter weit gesprungen und hatte die 100 Meter in 18,37 Sekunden und die 200 in 38,40 Sekunden gelaufen.
Über 200 Meter steht Tamara Adam damit auf Platz zwei der Weltrangliste – die allerdings, weil diese Distanz extrem selten gelaufen wird, nur drei Mitglieder umfasst – sowie über 100 Meter und im Weitsprung jeweils auf Platz 13 der nicht altersbeschränkten Liste, die das International Paralympic Comitee (IPC) führt.
Ins Sportinternat?
Tamara kann es im Sport also noch weit bringen. Schon jetzt fehlt die Rodenkircherin gelegentlich im Unterricht des Gymnasiums Nordenham, weil Training oder Wettkampf ist. Im nächsten Jahr könnte sie das Gymnasium ganz verlassen und an das Sportinternat von Bayer Leverkusen wechseln; dann würde sie ihre Eltern und ihre beiden Brüder aber nur noch sehr selten sehen.
Deshalb weiß die 15-Jährige noch nicht, ob sie diesen großen Schritt wirklich gehen will. Am Donnerstag kommt sie in die achte Klasse, und das steht jetzt im Mittelpunkt. Sport mag sie, wen wundert‘s, sehr gern, ihr zweites Lieblingsfach ist Kunst. Das zeigt sich an ihrer Alltagsprothese, auf die sie eine Figur aus der Serie Spongebob gemalt hat.
Text und Foto: Nordwest-Zeitung vom 13.08.2109, Henning Bielefeld